Wegen der Corona-Auflagen konnte die Beginenstiftung am 4. Juli 2020 nur in kleinem Kreis – aber mit umso mehr Freude – den mit 500€ dotierten Beginenpreis an Kerstin Möllers überreichen.Die Stiftung ehrt Kerstin Möllers für ihr fast zehnjähriges ehrenamtliches Engagement im Bereich der Organisation und Beratung von Wohnprojekten im Rahmen des Mietshäuser-Syndikates. Seit 2011 unterstützt sie die regionale Koordination des Mietshäuser-Syndikats und berät neue Gruppen, die ein Wohnprojekt im Rahmen des Syndikats aufstellen möchten.
Diese Tätgikeit umfasst geschätzte zwei bis vier Stunden pro Woche, jedoch bedeutet diese Arbeit oft auch lange Wochenenden bei den Projekten vor Ort sowie viel e-mail Verkehr, da die Zusammenarbeit zwischen Projekten intensiv und die gegenseitige Unterstützung sehr groß ist. Kerstin Möllers Kenntnisse als Diplombetriebswirtin befähigen sie bei der Beratung der Projekte hinsichtlich der Finanzen. Ihre Begeisterung für diese Tätigkeit und diese Art des Wohnens liegt aber vor allem in der Modellhaftigkeit dieser Projekte. Sehr wichtig ist für sie dabei die Art der Entscheidungsfindung in den Projekten, in diesem Fall die Konsensentscheidung anstelle einer Mehrheitsentscheidung. Außerdem soll bei der Finanzierung und für die Bewohner Geld eine geringere Rolle als üblich spielen, das heißt auch finanziell Schwächere sollen sich die Miete über eine solidarische Miete leisten können. Darüber hinaus ist ihr ihre Tätigkeit als politische Arbeit wichtig. Es geht für sie darum, Wohnraum zu schaffen, der dem Markt entzogen ist und so langfristig günstiges Wohnen erlaubt, gerade in einer Stadt wie Tübingen mit ihrem hohen Anteil an Studenten. Die Begeisterung für ihre Arbeit erwächst wesentlich aus der Begegnung mit den Menschen, die sich für diese Wohnformen entscheiden, den überregionalen Treffen und der wechselseitigen Unterstützung der Wohnprojekte. Hierbei wird ihr großes Interesse am Menschen selbst deutlich, so möchte sie vor allem auch für die Prozesse und zum Beispiel versteckte Hierarchien in den Projektgruppen sensibilisieren. Auch Kerstin Möllers aktueller Beruf als Alltagsbegleiterin der Kinden des Vereins für Sozialpsychiatrie zeigt ihr Engagement für die Menschen. Sie übt aber diesen Beruf nur in Teilzeit aus, um genügend Zeit für ihr ehrenamtliches Engagement zu haben. Sie schätzt die „Freiheit im Nicht-Bezahlt-Werden“ und wird auch den Beginenpreis nicht für sich selbst verwenden, sondern damit ein kleines Wohnprojekt unterstützen.
Den spannenden und engagierten Festvortrag „Gemeinschaftliche Wohnformen – ein Baustein resilienter Kommunen“ hielt die Wohnraumbeauftragte der Stadt Tübingen, Julia Hartmann. Dankenswerterweise dürfen wir diesen Vortrag ebenfalls veröffentlichen. Stimmungsvoll wurden wir von Moritz Weinbeer auf dem Cello durch die Preisverleihung geführt und von den Beginen in der Mauerstraße mit einem kleinen Sektumtrunk und Selbstgebackenem verköstigt. Herzlichen Dank an alle Mitwirkenden!
Christine Kühnel – Vorstand
Gemeinschaftliche Wohnformen – ein Baustein resilienter Kommunen
Festvortrag anlässlich der Beginenpreisverleihung 2020 von Julia Hartmann
Was tut die Stadtverwaltung der Universitätsstadt Tübingen, um gemeinschaftliches Wohnen zu fördern? Was diese Stadtverwaltung so alles tut, erzähle ich immer gern – ich hatte mir aber vorgenommen, vorab eine andere Frage zu beantworten: Warum gehört Wohnen überhaupt zu den Aufgaben der Stadtverwaltung, und warum interessiert sich eine Stadtverwaltung überhaupt für gemeinschaftliches Wohnen?
Die Antwort darauf liegt auf der Hand: ich erzähle Ihnen etwas über die Wohnungskrise, über den Mangel an bezahlbaren Wohnraum und über den Beitrag den gemeinschaftliche Wohnprojekte leisten, um langfristig bezahlbaren Mietwohnraum zu schaffen.
Dann kam Corona, eine weitre Krise, um es wurde deutlich: gemeinschaftliche Wohnprojekte stehen auch in anderen Krisen besser da als andere Wohnformen. Sie können vielleicht auch Antworten geben auf zukünftige Krisen, die sich bereits abzeichnen, die uns noch bevorstehen und über die wir in der Zeit des Lockdowns viel Zeit hatten nachzudenken.
Klar ist jedenfalls, dass es bei den Aufgaben der Stadtverwaltungen über die Wohnungskrise hinaus um Krisenfestigkeit insgesamt geht. Und immer aktueller um die Frage, wie wir als Stadtgesellschaf uns eigentlich wappnen können für kommende Krisen.
Wie kann eine Stadt resilienter werden?
Resilienz ist die Kapazität von Systemen, Krisen und Stress zu bewältigen, sich anzupassen und Formen des Umgangs mit Herausforderungen zu finden und da können wir einiges lernen von gemeinschaftlichen Wohnprojekten.
Aber über welche Krisen spreche ich denn, in welchen Krisen befinden wir uns und welche stehen uns noch bevor?
Ja, es stimmt, am allerakutesten sind wir in einer Wohnungskrise. Wir erleben einen ungeheuren Druck auf dem Wohnungsmarkt, stetig wachsende Bodenpreise, immer teurere Mieten. Gleichzeitig erleben wir, wie die Immobilienwirtschaft sich – ohne kommunale Interventionen – auf ein oberes, teures Segment beschränkt und Wohnung zu Ware und Spekulationsobjekten reduziert wird.
Dies führt im schlimmsten Fall zu einer Entmischung, wenn diejenigen Haushalte, die sich Wohnen nicht mehr leisten können, nur noch außerhalb der Stadtgrenzen eine Bleibe finden.
Gemeinschaftliches Wohnen zielt auf Wohnen als Handlung, nicht als Ware. Es entzieht Wohnraum diesen Preisspiralen und bietet langfristig stabile und bezahlbare Mieten – und das hat auch Auswirkungen auf die Krisenfestigkeit des Wohnungsmarkts insgesamt.
Aber wir haben auch noch andere Herausforderungen. Während wir hier im Home Office saßen oder mit Bekannten auf Distanz spaziert sind, gab es den trockensten Frühling seit Jahrzehnten. Ein weiterer trauriger Rekord, der uns die Klimakrise verdeutlicht, die durch unseren enormen Energie- und Ressourcenverbrauch ausgelöst wird. Dazu kommen andere, sich ebenfalls abzeichnende Krisen: eine Krise der Mobilität, eine Krise des Flächenverbrauch, eine Krise der Nahversorgung, eine Krise der Nahrungsmittelproduktion – die Tatsachse, dass unser individualisierter Konsum Unmengen an Ressourcen verbraucht – und Unmengen an Abfall produziert.
Gemeinschaftliches Wohnen dagegen ermöglicht Einsparungen an Ressourcen und ermöglicht Synergien, bei denen wir dann weniger von Allem brauchen:
Wenn Funktionen des Wohnens in gemeinschaftliche Räume ausgelagert werden, brauchen wir insgesamt weniger Wohnfläche. Wenn dazu noch andere Lebensbereiche geteilt werden, z.B. gemeinsam eingekauft, gegessen wird, Geräte gemeinsam genutzt werden, brauchen wir weniger Lebensmittel und generieren weniger Lebensmittelabfäll, so brauchen wir weniger Apparate, Maschinen und weniger Transportmittel und können so unseren Fußabdruck auf diesem Planeten reduzieren.
Viele gemeinschaftliche Wohnprojekte gehen noch weiter und schaffen ressourcenschonende Strukturen über die Wohnprojekte hinaus: Umsonstläden führen alte Dinge einer neuen Nutzung zu, Food Coops oder Initiativen solidarischer Landwirtschaft fördern lokalen Anbau und Produktion von Nahrungsmitteln.
Zuletzt möchte ich noch aufmerksam machen auf eine weitere schleichende, nicht so offensichtliche Krise: die des demografischen Wandels der Haushaltsstrukturen. Die allergrößte Anzahl in Tübingen sind 1-Personen-Haushalte und das liegt nicht nur daran, dass Tübingen eine Studentenstadt ist.
Das hat die Corona Krise am allereindrücklichsten gezeigt: während viele, insbesondere ältere nicht-gemeinschaftlich Wohnende größte Schwierigkeiten hatten, ihren Alltag neu zu organisieren, hatten die gemeinschaftlichen Wohnprojekte bereits von Haus aus Strukturen, die die Alltagsorganisation erleichtern; gemeinsamer Einkauf, gemeinsame Kinderbetreuung und ganz grundsätzlich die Möglichkeit von Sozialleben und Kontakt.
Während viele einzelne Menschen und Haushalte vor ganz neuen Herausforderungen standen, konnten gemeinschaftliche Wohnprojekte auf Erprobtes zurückgreifen: Gemeinsam Entscheidungen zu treffen, sich zuzuhören, auf verschiedene Bedürfnisse einzugehen, zu definieren, was Solidarität bedeutet, all das ist das tägliche Brot gemeinschaftlichen Wohnens.
Genug Gründe zu sagen: wenn wir als Stadtgesellschaft resilienter werden wollen, ökologischer, inklusiver, solidarischer, dann sind gemeinschaftliche Wohnformen ein wichtiger Baustein- und deshalb fördert die Kommune gemeinschaftliche Wohnformen.
Wie fördert Tübingen gemeinschaftliches Wohnen?
Tübingen steuert schon sehr lange proaktiv in der Wohnraumentwicklung und der Entwicklung neuer Quartiere. Vor allem praktiziert die Universitätsstadt seit Jahrzehnten, was andere Städte erst jetzt beginnen: Den aktiven Ankauf von Baugrundstücken, die dann zum Festpreis weitergegeben werden. Und zwar an die die Bauprojekte mit dem besten Konzept.
Bei der Auswahl werden folgende Fragen berücksichtigt: Was bringt das Projekt fürs Quartier? Schafft es langfristig bezahlbaren Wohnraum? Spart es Flächen? Bringt es weitere Infrastruktur ins Quartier? Wie groß ist sein ökologischer Fußabdruck? Oft schneiden gemeinschaftliche Wohnprojekte aus den oben genannten Gründen hier ganz besonders gut ab.
Solche Projekte unterstützt die Universitätsstadt nicht nur über die Vergabe von Neubaugrundstücken, sie ist auch interessiert an der Umwandlung von Bestandsgebäuden; dabei vergibt sie Bürgschaften für Projekte oder betätigt sich als Mittler zwischen Käufern und Verkäufern. Insbesondere bei Immobilien des Landes Baden-Württemberg war dies in der Vergangenheit häufig der Fall.
Mit dem Projekt „Optiwohn“ unterstützt die Universitätsstadt zusätzlich die Schaffung von gemeinschaftlichen Wohn- und Pflegeangeboten für ältere Menschen. Dabei werden nicht nur stabile, altengerechte, unterstützende Wohnumgebungen für Senioren geschaffen. Mit dem Umzug werden auch Wohnungen und Häuser für Familien frei.
Für Wohnprojekte in Gründung bietet die Universitätsstadt ausführliche Beratung zu finanziellen Förderprogrammen an und unterstützt bei der Antragstellung.
Für Menschen, die gern gemeinschaftlich Wohnen wollen, bieten wir Vernetzungsmöglichkeiten, derzeit z.B. über ein digitales Anschlagbrett für Wohninteressierte und Gruppen auf der Suche nach weiteren Mitgliedern.
Unser neuestes Projekt: Für kleinere gemeinschaftliche Wohnprojekte, die sich genossenschaftlich organisieren möchten, soll eine Tübinger Dachgenossenschaft Wohnen kompetente Unterstützung und einen zuverlässigen Rahmen bieten. Ein beachtlicher Zuschuss des Landes ermöglicht die finanzielle und logistische Unterstützung im Solidarverbund der Dachgenossenschaft.
All diese Maßnahmen können aber nur unterstützen – denn es geht natürlich nicht ohne die Menschen, die mit viel Engagement solche Projekte ins Leben rufen. Die resilientesten Städte sind Städte mit anpassungsfähigen und kreativen Bewohnern, Bewohnern, die gelernt haben, gemeinsam und gemeinschaftlich zu agieren. Und genau das tun gemeinschaftliche Wohnprojekte ja bereits im Kleinen – und weisen damit vielleicht auch Wege zu einer größeren Resilienz.
Wir hoffen und wünschen uns, dass die Projekte sich auch als Teil des Wandels zu einer Krisenfestigkeit begreifen, denn aus unserer Sicht haben sie Borbildfunktion für eine resilientere Stadtgesellschaft. Unser Dank daher heute den Menschen, die solche Projekte ermöglichen und voranbringen. Wir hoffen, dass wir noch viele Projekte unterstützen können! In diesem Sinne: Herzlichen Dank an Kerstin Möllers und all ihre Mitstreiterinnen: wir brauchen Euch!