Die Beginenstiftung ehrt jährlich eine alleinstehende Frau, die sich bürgerschaftlich engagiert, aber nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht und wenig Geld zur Verfügung hat. Am 10. Juli 2021 wurde der diesjährige Beginenpreis in Höhe von 500 € an Marie Kaltenbach verliehen. Gewürdigt wurde damit der Kampf für ein Umdenken beim Thema Prostitution. Die Laudatio hielt Uta Schwarz-Österreicher: „Geehrt wird in diesem Jahr Marie Kaltenbach. 26 Jahre ist sie alt, sie kommt aus der Freiburger Gegend, hat im Jahr 2013 Abi gemacht und studiert heute Soziologie und Politikwissenschaft. Sie ist also Wissenschaftlerin und sie ist Feministin. Bei aller Intelligenz und Bildung hat sie nämlich einen sehr praktischen Zugriff auf das Leben. „Eigentlich, sagt sie von sich, bin ich eher der handwerklich–praktische Typ.“
Es ist genau dieser praktische, besser dieser pragmatische Zugang, der auch Maries Verständnis von Feminismus prägt. „Feminismus bleibt häufig ein intellektuelles Projekt“, kann sie beispielsweise sagen, das ist ein sehr bemerkenswerter Satz.
Wenn es um Feminismus geht, soll noch eine andere für Marie Kaltenbach wichtige Institution genannt werden, das BAF (Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs), übrigens auch eine frühere Preisträgerin der Beginenstiftung. „Im BAF“, sagt Marie, „hat mein feministisches Erwachen und mein Engagement begonnen. Dem BAF fühle ich mich auch heute noch verbunden.“
Marie Kaltenbachs Feminismus jedenfalls bleibt, um zum Thema Pragmatismus zurückzukommen, nicht intellektuell; zwar geht es ihr um ein umfassendes Verstehen und Begreifen, darüber hinaus aber um Zugang zu Lebenswelten, um gelebte Solidarität und um die Veränderung der Verhältnisse. Diesen umfassenden Einsatz findet man selten.
Marie lenkt mit ihrem Engagement unseren Blick auf eine Gruppe von Frauen, denen wenig gesellschaftliche Anerkennung zuteil wird, die häufig am Rande bleiben, gemieden, vielfach auch verachtet, aber benutzt werden: die Prostituierten. Deren gesellschaftliche Ächtung ist eine Seite der Doppelmoral einer Gesellschaft, die den Sex Kauf als normal betrachtet; die nicht in Frage stellt, dass Männer schon mal ein Betriebsfest mit Prostituierten „garnieren“ oder sich sonst für Geld Frauen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gefügig machen.
Wie sieht die Realität dieser Sexarbeit, oder um es wenig verharmlosend zu formulieren, der Prostitution aus, fragt Marie, und konzentriert sich zunächst auf den Begriff der Freiwilligkeit. Denn Zwangsprostitution, darüber gibt es bei uns ja durchaus einen gesellschaftlichen Konsens, Zwangsprostitution soll es in Deutschland nicht geben. Deshalb ist 2016 ein Prostituiertenschutzgesetz erlassen worden. Prostituierte müssen sich danach bei der Polizei anmelden und erklären, dass sie diesen Beruf freiwillig ausüben.
Wie frei aber ist der Wille wirklich, wenn ich aus einem der ärmeren Länder Europas komme (z.B. Bulgarien, Rumänien und Moldawien) oder aus Afrika, wie 90% der Prosituierten, häufig mit falschen Versprechungen gelockt und, hier angekommen, keinen anderen Weg sehe, mein Leben zu finanzieren? Wie frei ist mein Wille, wenn die Menschenhändler unten im Wagen sitzen und mir nach der Unterschrift bei der Polizei den Pass wieder abnehmen?
Und wie sieht ein Leben konkret aus, in dem ich für Unterkunft und Zimmer im Bordell über 100 Euro täglich zahlen muss? Und für einmal Sex mit dem Freier 30-40 Euro bekomme? Also mit 3 Terminen habe ich, wenn es gut geht, meine Kosten abgedeckt, leben muss ich auch noch, also wie oft täglich den Ekel überwinden, nicht selten mit Hilfe von Drogen oder Alkohol, hoffen, dass es zu manifesteren Formen der Gewalt als der körperlichen Grenzüberschreitung nicht kommt.
Die Folgen: Der Alltag von Prostituierten ist von Angst bestimmt. Angst vor Gewalt von Kunden, Zuhältern oder Bordellbetreibern, Angst, schwanger oder krank zu werden, Angst vor Ausweisung oder Abschiebung. Und die Ängste sind berechtigt. Ein Großteil der Prostituierten ist wiederholt psychischer oder physischer Gewalt, Vergewaltigungen und Erniedrigungen ausgesetzt. Nicht selten wird jeder Kontakt als Vergewaltigung empfunden. Prostitution führt zu zahlreichen körperlichen teils chronischen Beschwerden und zu einem massiven Gebrauch von Alkohol, Drogen oder Psychopharmaka, um den Prostitutionsalltag ertragen zu können. Dazu kommen psychische Probleme wie Depressionen, Burnout und Traumata.
Für Marie Kaltenbach ist klar: Von Freiwilligkeit kann hier nicht die Rede sein, schon gar nicht geht es um sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung, vielmehr geht es um Ausbeutung, Elend und Gewalt. Und für Marie ist klar, dass das deutsche Prostituiertenschutzgesetz seine Wirkung verfehlt: Immer noch kommen 90 Prozent der Prostituierten aus den Armenhäusern Europas, immer noch zahlen sie Bordellbetreibern Wuchermieten, immer noch kann die Polizei Zuhälterei und Menschenhandel so gut wie nie nachweisen.
Dass Prostitution ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist, hatten die übrigens die Vereinten Nationen schon 1949 in ihrer „Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der der Prostitution anderer“ konstatiert. Deshalb soll nach dem Willen der UN „jede Person bestraft werden“, die „eine andere zur Prostitution verleitet“ und zwar, Achtung: „selbst mit deren Einwilligung“.
Die Vereinten Nationen haben also schon vor mehr als 70 Jahren die Grundzüge des „Nordischen Modells“ befürwortet, für das sich Marie Kaltenbach zum Schutz der Frauen hier und heute so vehement einsetzt. Dabei geht es um 3 wesentliche Bausteine:
– Entkriminalisierung der Prostituierten
– Kriminalisierung der Sexkäufer und Bordellbetreiber
– Ausstiegsprogramme für Prostituierte.
Also: Nicht die Prostitution ist verboten, sondern der Sexkauf. Schweden war 1999 das erste Land, welches durch die Einführung des Sexkaufverbots die Gleichberechtigung der Geschlechter vorangebracht hat. Es folgten Norwegen und Island (Nordisches Modell) aber auch Kanada, Frankreich, Irland und Israel.
Die Bilanz in Schweden ist ermutigend. Nach 10 Jahren stellte der Regierungsbericht fest:
– die Prostitution ist signifikant zurückgegangen
– 70% der Bevölkerung stehen hinter der Gesetzgebung
– Es gibt kaum ausländische Frauen in Schweden, die sich prostituieren
– die Straßenprostitution konnte halbiert werden.
Gute Gründe für Marie, sich für die Einführung dieses Modells in Deutschland stark zu machen.
Und das tut sie nicht nur, indem sie auf die Straße geht und öffentlich für ihre Idee wirbt. Das auch, auch das gehört auch dazu. Sie tut es aber auch, indem sie sich parteipolitisch engagiert und versucht, ihre Partei, die SPD zum Umdenken zu bewegen.
Deshalb begibt sie sich auf den Landesparteitag der SPD 2019 in Heidenheim und hält eine Rede. Vor einem riesigen Publikum. Vorher hat sie die Antragskommission überzeugt und unsere spätere Landtagskandidatin und jetzige Abgeordnete, Dorothea Kliche-Behnke. „Mit der bisherigen Gesetzgebung“, sagt Marie Kaltenbach dort, „überhören wir die Frauen und lassen Sie alleine“. Und: „Prostitution betrifft die ganze Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die es zulässt, dass Frauen ihre Körper verkaufen, macht alle Frauen zur potenziellen Ware.“ Wie couragiert, wie zugespitzt, wie radikal gedacht. Und Marie Kaltenbach schafft es: Eine Mehrheit stimmt für ihren Antrag und so steht es jetzt im Wahlprogramm der SPD.
Aber zum konkreten, praktischen Zugang gehört noch ein anderes Thema, die Arbeit mit und für den Verein Sisters. Der Verein setzt sich, zusammen mit ehemaligen Prostituierten, „Überlebenden“ wie Marie sagt, für Ausstiegshilfen aus der Prostitution ein. Seit 2016 ist Marie Mitglied im Verein, sie gründete eine Tübinger Ortsgruppe und ist deren Sprecherin.
Nicht zuletzt: Das Engagement von Marie Kaltenbach und anderen trägt langsam Früchte. Am 18. Mai 2020 flatterte allen 16 deutschen Ministerpräsident*innen ein Brief auf den Schreibtisch, in dem 16 Bundestagsabgeordnete aus Union und SPD forderten, die damals wegen Corona noch geschlossenen Bordelle, Ferienwohnungen und Straßenstriche nicht wieder zu öffnen. „Wir halten die Zustände in der Prostitution für die dort Tätigen in der großen Mehrzahl der Fälle für menschenunwürdig, zerstörerisch und frauenfeindlich“, heißt es darin. Mitunterzeichner*innen sind u.a. Annette Widmann-Mauz (CDU) und Karl Lauterbach (SPD).
Nun, der Appell hatte sicherlich Wirkung, aber wir wissen, sein Anliegen wurde nicht umgesetzt. Mittlerweile öffnet der Sexmarkt wieder. Etliche Frauen konnten den Lock-Down für einen Neuanfang nutzen, das erzwungene Durchbrechen der unausweichlich erscheinenden Routine eröffnete Chancen. Zusammen mit Beratungs- und Ausstiegsangeboten werden andere Wege denkbar. Jetzt geht alles wieder von vorne los, bei geringeren Preisen stehen die Freier Schlange. Die Entwürdigung geht weiter.
Marie Kaltenbach setzt sich mit ihrer ganzen Person, ihrem Verstand, ihrer Ernsthaftigkeit, ihrer Leidenschaft ihrer Kritikfähigkeit und ihrer Mitmenschlichkeit dafür ein, der in Deutschland legalisierten Unterdrückung und Gewalt durch Prostitution ein Ende zu bereiten. Sie nutzt dafür private Gespräche, ihr Engagement im Verein Sisters, Aktionen auf der Straße, die formalen Wege der Politik. Das Engagement dieser erst 26jährigen Frau erfüllt mit Hochachtung. Die heutige Verleihung des Beginenpreises ist dafür eine würdige Anerkennung. Sicher darf ich auch in Ihrem Namen meinen Dank und großen Respekt für dieses besondere Engagement aussprechen. Ich wünsche und hoffe, dass dieser Preis mit dazu beiträgt, Maries Botschaft weiter in die deutsche Gesellschaft zu tragen: Prostitution ist eine der schlimmsten Ausdrucksformen der ungleichen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen. Sie degradiert die Frauen zur Ware und lässt sie mit ihren Erfahrungen von Gewalt und Vergewaltigung allein. Dass wir das zulassen, geht uns alle an. Wer Menschenrechte achtet, muss der Prostitution durch eine wirksame Gesetzgebung den Boden entziehen. Unsere Nachbarn machen es vor.
Was Engagement für die Idee und gerade für die Ausstiegshilfen angeht, müssen wir nicht weit gehen – wir dürfen würdigen, was hier vor Ort in Tübingen durch Marie Kaltenbach in Gang gesetzt wurde und passiert.“
(leicht gekürzt)
09.12.21 id/cl